Hartmann: Wir haben bei DigiSchwein eine Vielzahl verschiedener Sensoren eingesetzt, Kameras, Mikrofone, auch Aktivitätssensoren am Einzeltier. Der Landwirt oder die Landwirtin betrachten im Stall erstmal Tiergruppen, zuerst das Abteil, dann die Bucht. Durch die zwangsläufige Mensch-Tier-Interaktion bei der Kontrolle verhalten sich die Tiere anders, als wenn sie völlig ungestört sind. Einzelne Tiere mit kleineren Problemen können so bei der personengestützten Tierkontrolle leichter unter dem Radar bleiben. Bei DigiSchwein sammeln Kameras und Sensoren Daten von jedem einzelnen Tier. In den Beobachtungszeiträumen zwischen den Kontrollen der Tierhaltenden liefern die digitalen Systeme ein Feedback, wenn sie Abweichungen vom natürlichen Ruheverhalten feststellen und Handlungsbedarf angezeigt ist. Das System hat gelernt, die gesammelten Daten auf Plausibilität zu prüfen, bevor es eine Warnmeldung verschickt.
Wie lange muss Künstliche Intelligenz (KI) trainiert werden, um die Tierwohlindikatoren zuverlässig bewerten zu können?
Hartmann: In unserem Projekt haben wir zum Beispiel die Schwanzhaltung bei Schweinen mit Ringelschwanz als Tierwohlindikator herangezogen. Erhobene und geringelte Schwänze sind ein klares Zeichen dafür, dass alles in Ordnung ist. Sobald die Schweine den Schwanz hängen lassen, ist etwas vorgefallen, das ihr Wohlbefinden beeinträchtigt hat. Oft ist das auch der Beginn von Schwanzbeißen. Seit 2021 haben wir viele Daten gesammelt und die entsprechenden Programme geschrieben. Das Ergebnis sind KI-Algorithmen, die die Grundlage für eine eigenständige Farmmanagementsoftware bilden. Mit diesem relativ kurzen Training konnten wir sehr vielversprechende Ergebnisse erzielen. Künstliche Intelligenz lebt aber vom Dateninput und wird immer besser, je mehr Input das selbstlernende System erhält.
Können digitale Assistenzsysteme zu einem geringeren Personalbedarf auf Betrieben führen?
Hartmann: Das Tierschutzgesetz schreibt die betriebliche Eigenkontrolle durch fachlich qualifiziertes Personal vor. Das System kann Mitarbeitende immer nur ergänzen, nicht aber ersetzen. In größeren Betrieben wird es damit aber leichter werden, jederzeit einen umfassenden Überblick über den Tierbestand zu haben.
Kann die digitale Tierüberwachung auch zu einem zusätzlichen Stressfaktor für Tierhaltende werden, wenn überall und jederzeit Warnmeldungen hereinkommen können?
Hartmann: Wir wollen eine kontinuierliche Überwachung. Hier kommt die Stärke der KI ins Spiel. Sie erfasst Situationen selbständig, bewertet sie und benachrichtigt Betriebsleiterinnen und Betriebsleiter in Echtzeit. Es ist aber auch denkbar, dass die Berichte in regelmäßigen, definierten Abständen erfolgen. Im Optimalfall unterscheidet das System sicher zwischen Fällen, in denen sofortiger Handlungsbedarf besteht, und solchen, wo es ausreichend ist, bei der nächsten Routinekontrolle Abhilfe zu schaffen.
Werden solche Systeme im Praxiseinsatz später auch Rechtssicherheit für Landwirte und Landwirtinnen bieten können, um bei Kontrollen gegenüber Kontrollbehörden eine lückenlose Überwachung des Bestandes nachweisen zu können?
Hartmann: Die Sensoren erfassen genormte Parameter. Das System soll den Landwirt unterstützen und entlasten. Das könnte auch bei der Dokumentation erfolgen. Für Tierhaltende könnte das durchaus zu einer Erleichterung führen. Ihre Sicherheit nimmt zu, wenn sie nachweisen können, dass sie auf Vorkommnisse zeitnah reagiert haben und dies mittels KI basierter Tierüberwachungssysteme auch gegenüber Behörden belegen können. Hier muss der Gesetzgeber allerdings noch klare Rahmenbedingungen hinsichtlich des Datenschutzes und der Datensicherheit schaffen.
Wird die Technologie aufgrund der technischen Anforderungen nur für neue Stallanlagen interessant sein oder ist sie auch für bestehende Ställe denkbar?
Hartmann: Ich sehe keine Einschränkungen für die eine oder andere Haltung. Wir geben keine konkreten Empfehlungen, sondern versuchen allgemeingültige Algorithmen zu entwickeln, die eine Möglichkeit zur individuellen Anpassung an unterschiedlich große Betriebe bieten. Darin liegt eine Stärke von selbstlernenden KI-Systemen. Tierhalterinnen und Tierhalter werden immer die Wahl haben, ob sie den gesamten Betrieb oder nur Teilaspekte wie Tierwohl, eine besseres Monitoring des Stallklimas oder Stoffströme digital erfassen möchten.
Wann können wir mit der Praxisreife der Assistenzsysteme rechnen?
Hartmann: Ich rechne damit, dass es noch gut fünf bis zehn Jahre dauern wird, bis die digitalen Lösungen aus DigiSchwein serien- und marktreif sind. Wie eingangs gesagt, leistet DigiSchwein hier Grundlagenarbeit, die nach ihrer Veröffentlichung von der Industrie zur Marktreife weiterentwickelt werden muss. Aktuell steht die Schweinehaltung in Bezug auf digitale und technische Lösungen auch in der Tierbeobachtung noch recht weit am Anfang. Bei den Rindern ist man hier schon deutlich weiter.
Vielen Dank, Herr Hartmann für das Gespräch.